Wer sind die Brambrillas

WIR SCHREIBEN KINDERGESCHICHTEN UND DENKEN UNS IMMER WIEDER ETWAS NEUES AUS. WIR ZEICHNEN UND FOTOGRAFIEREN. MAL ZUSAMMEN, MAL JEDE FÜR SICH. BASTELN, FILOSOFIEREN UND KOCHEN TUN WIR AUCH GERNE. WIR MÖGEN TIERE UND DAS MEER. DIE NATUR LIEGT UNS AM HERZEN UND DIE FREUDE DARAN WOLLEN WIR MIT EUCH TEILEN.

18. April 2015

Die Geschichte des alten Fischers Yanni, der den Horizont besuchen wollte - Teil 1

Hallo zusammen
Heute stellen wir euch unseren Freund Yanni vor. Er lebt als Fischer auf einer griechischen Insel und ist schon ziemlich alt. Vieles hat er bereits gesehen, aber das, was er auf seiner Reise zum Horizont erleben wird, das übertrifft alles. Heute macht er sich auf den Weg und nimmt euch gerne die nächsten Wochen mit. Also hisst mit ihm das Segel und entdeckt, wie wundersam die Welt ist...


YANNI MACHT SICH AUF DEN WEG
Die Sonne ging am Horizont unter und tauchte das Meer in schimmerndes Gold. Wie immer um diese Zeit saß der alte Fischer Yanni vor seinem weiß gekalkten Haus und flickte bedächtig sein Fischernetz, während aus der Bar nebenan laute Musik wummerte. 
Yanni war froh darüber, dass sein Gehör mit den Jahren schlechter geworden war und er nur noch bestimmte Geräusche wahrnahm, wie den beruhigenden Wellenschlag des Meeres oder das aufgeregte Kreischen der Möwen. 
Die Zeiten hatten sich geändert. Immer häufiger kehrte er mit praktisch leerem Netz an Land zurück. Die vielen Fischerkutten hatten jahrelang mit ihren Treibnetzen das Meer fast leer gefischt und den Fischen keine Zeit gelassen, für Nachwuchs zu sorgen.
«Spiegeleiqualle, Stachelmakrele, Hornhecht, Seewolf», versuchte sich Yanni an all die Meeresbewohner zu erinnern, die er als Junge beim Schnorcheln vor der Küste seiner Insel gesehen hatte. Er legte sein Netz beiseite, rieb sich die müden Augen und blickte nachdenklich auf den Horizont.
«Kalispera, Yanni. Von welchem Meeresbewohner erzählst du mir heute?», fragte das Nachbarmädchen Sofia neugierig und setzte sich neben Yanni. 
Yanni liess den Blick übers Meer gleiten.
«Heute werde ich dir keine Geschichte erzählen, meine Kleine. Ich muss schlafen gehen, denn morgen gehe ich auf eine weite Reise.» 
«Eine weite Reise?», fragte das Mädchen erstaunt. «Aber bist du nicht schon zu alt dafür?»
Yanni musste über Sofias ehrliche Art lachen und fuhr mit der Hand über ihr sonnengebleichtes Haar. 
«Man ist nie zu alt, um einen guten Freund zu besuchen», antwortete er. 
Die Hände auf die Knie stützend stand Yanni langsam auf und trat in sein Haus. Nachdenklich blieb Sofia vor dem Haus sitzen bis der alte Fischer das Licht in seinem Zimmer ausmachte. Wer würde ihr nun in der Zwischenzeit all die schönen Geschichten erzählen?

Mit einem Lächeln auf dem Gesicht lag Yanni in seinem Bett und träumte von längst vergangenen Zeiten, als er noch ein Junge war und im Sommer am Strand arbeitete, wo er die Tagesmieten für die Sonnenschirme bei den Touristen einsammelte, um für ein Fahrrad zu sparen. Er hörte wieder das ungeduldige Rufen seiner Mutter, das er damals überhörte, um abends länger mit seinen Freunden spielen zu können. Und er sah das wettergegerbte Gesicht seines Vaters vor sich, wie er ihm beim Flicken des Netzes von den Geheimnissen des Meeres und seinem guten Freund, dem Horizont, erzählte. 

Als Yanni am nächsten Morgen aufwachte, streckte er sich wohlig und legte sich die Hand aufs Herz. 
«Es schlägt noch», murmelte er dankbar und begann, das Nötigste für seine Reise einzupacken. Dann setzte er seinen Strohhut auf und lichtete den Anker seines kleinen Fischerbootes. 
Etwas später kam Sofia auf dem Weg zum Strand an Yannis Haus vorbei und entdeckte eine Nachricht, die er an der blau gestrichenen Holztür hinterlassen hatte.
«Liebe Sofia. Ich werde in ein paar Tagen zurück sein. Bitte füttere während meiner Abwesenheit Athina. Yanni.» 
Bald wussten alle Dorfbewohner von Yannis plötzlicher Abreise. Jeder sprach davon, sogar Nikos, der Bäcker, der sonst lieber schwieg und sich neue Kuchenrezepte ausdachte. 
«Ich hab kein gutes Gefühl, gar kein gutes Gefühl!», murmelte er und reichte Sofia eine ofenwarme mit Nüssen gefüllte Blätterteigrolle, bevor er wieder in seiner Backstube verschwand.
Schon nach kurzer Zeit vermisste Sofia den alten Fischer. Jeden Abend hielt sie Ausschau nach seinem Boot, während Athina, Yannis störrische Ziege, an den Möhren knabberte, die Sofia ihr vorbeibrachte. 
Der Sommer und der Herbst zogen vorüber. Die Touristen verließen einer nach dem anderen die kleine Insel, aber Yanni kam nicht von seiner Reise zurück. Bald dachten die Dorfbewohner, dass der alte Mann wohl für immer gegangen, vielleicht sogar gestorben war. Nur Sofia war überzeugt, dass er eines Tages wieder quicklebendig zurückkommen und ihr vom Besuch bei seinem Freund erzählen würde. 

OCTO, DIE RIESENKRAKE
Die Tage wurden kürzer. Der Strand gehörte wieder nur den Möwen, die kreischend auf den Wogen des Windes trieben. Der Winter brachte so viel Schnee wie noch nie zuvor und ließ langsam die Erinnerung an Yanni schwinden. Keiner der anderen Dorffischer war ihm auf hoher See begegnet. Man hatte sich schweren Herzens mit der Vorstellung abgefunden, dass er wohl nie mehr zurückkehren und die Abende mit seinen wundersamen Meeresgeschichten verkürzen würde. 
Aber Yanni war nicht, wie alle glaubten, gestorben. Ganz und gar nicht. Er war immer noch auf dem Weg zum Horizont. Eine Insel nach der anderen war am alten Mann vorübergezogen. Ebbe war auf Flut gefolgt. Flut auf Ebbe. Der Mond hatte zu- und dann wieder abgenommen. Die Sicht war manchmal trüb gewesen, dann wieder sternenklar. Ein Tag hatte sich an den anderen gereiht, bis Yanni mutterseelenallein mitten in den Weiten des Meeres gelandet war. Nur der Horizont leistete ihm Gesellschaft.
«Jasu, mein Freund. Nun bin ich doch schon ein paar Tage unterwegs, und immer, wenn ich glaube, ich bin jetzt bald vor deiner Haustür, muss ich feststellen, dass du wieder ans Ende der Welt gerückt bist. Führst du mich vielleicht an der Nase rum?», murmelte Yanni und blickte auf die feine Linie zwischen Meer und Himmel, auf der gerade die feuerrote Abendsonne ins Meer tauchte. 
Plötzlich blubberte es seltsam neben Yannis Boot. Neugierig beugte er sich über den Bootsrand und erblickte unzählige Luftblasen, die an die Wasseroberfläche stiegen. 
«Was wird das denn wieder sein?», fragte sich der alte Fischer.
Er hatte nämlich schon einige Dinge aus dem Meer gefischt, die da nicht hingehörten: rostige Fahrräder, kaputte Fernsehgeräte, Autoreifen und unzählige Plastikflaschen. Einmal war er sogar auf ein Fass mit einer grünen Flüssigkeit gestossen, die schrecklich stank und auf der Haut brannte. So etwas konnte nicht gesund sein. Weder für die Tiere noch für die Menschen. Aber was konnte er schon alleine dagegen anrichten?
Yanni kniff seine Augen zusammen, um erkennen zu können, was in seinem Netz gelandet war, als zwei riesige, glitschige Tintenfischarme aus dem Wasser schnellten und sich am Boot festsaugten. 
Erschrocken wich Yanni zurück. Das Blubbern wurde immer stärker, schließlich ragte auch der Kopf des Tintenfisches aus dem Wasser. Vergnügt betrachtete er den alten Fischer mit seinen glubschigen Augen und schlug mit den restlichen Tentakeln auf die Wasseroberfläche. 
«Willst du wohl aufhören!», rief Yanni aus und wischte sich das brennende Salzwasser aus den Augen. 
Octo, der Tintenfisch, lachte amüsiert. 
«Na, alter Yanni! Immer noch nicht den Horizont erreicht?», fragte er freundlich. 
«Woher kennst du meinen Namen? Und wieso können wir miteinander sprechen?», fragte Yanni erschrocken.
«Ach, das ist doch nicht wichtig!», antwortete der Tintenfisch. «Viel wichtiger ist, wie du dein Ziel erreichen kannst», erklärte die Riesenkrake. 
«Du weißt, wie ich den Horizont erreichen kann?», wollte Yanni aufgeregt wissen. 
«Gewiss, mein Freund, gewiss. Aber die Frage ist, ob der Horizont will, dass ich dir das verrate. Er hat doch Freunde auf der ganzen Welt. Stell Dir mal vor, die würden ihm alle auf einmal einen Besuch abstatten wollen», sagte Octo schmunzelnd und benetzte sich die ausgetrocknete Stirn. 
Yanni setzte sich hin und überlegte kurz. 
«Daran habe ich gar nicht gedacht.» 
«Ja, so ist das mit den Menschen. Man muss euch ab und zu auf die Sprünge helfen», neckte ihn Octo und bespritzte ihn wieder. 
Yanni gab ihm lachend recht und leckte sich das salzige Wasser von den Lippen. 
«Es wäre wohl höflicher, wenn jemand ihm sagen würde, dass ich auf dem Weg zu ihm bin. Könntest nicht du vielleicht...?», fragte er den Tintenfisch. 
«Gerne, Yanni! Und du machst in der Zwischenzeit nichts, was ich nicht auch machen würde. Kali nichta und schlaf gut», verabschiedete sich Octo mit einem Augenzwinkern und verschwand blubbernd in den dunklen Fluten. 
Yanni legte sich hin und dachte über die einzigartige Begegnung mit Octo nach. Diese Geschichte würde ihm bei seiner Rückkehr wirklich niemand glauben.

© Text und Zeichnungen Brambrilla 2015 / Daniela und Isabella Cianciarulo

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