Wer sind die Brambrillas

WIR SCHREIBEN KINDERGESCHICHTEN UND DENKEN UNS IMMER WIEDER ETWAS NEUES AUS. WIR ZEICHNEN UND FOTOGRAFIEREN. MAL ZUSAMMEN, MAL JEDE FÜR SICH. BASTELN, FILOSOFIEREN UND KOCHEN TUN WIR AUCH GERNE. WIR MÖGEN TIERE UND DAS MEER. DIE NATUR LIEGT UNS AM HERZEN UND DIE FREUDE DARAN WOLLEN WIR MIT EUCH TEILEN.

28. April 2015

Die Geschichte des alten Fischers Yanni, der den Horizont besuchen wollte - Teil 2

Heute geht's weiter mit Yannis Geschichte. In den Tiefen des Meeres begegnet er ganz aussergewöhnlichen Geschöpfen. Springt mit in die Fluten und seht selbst...


SIRENENZAUBER
Schweinswale, Stundenglasdelphine, Geistermuränen, Hammerhaie, Zipfelseegurken, Spiralröhrenwürmer, Seepferdchen, Langnasen-Büschelbarsche, kurz die ganze internationale maritime Task Force schüttelte bei der wie immer am ersten Montag des Monats stattfindenden Krisensitzung den Kopf, als Octo ihnen von der Begegnung mit Yanni erzählte. 
«Den Horizont besuchen! Wir haben wohl andere Sorgen! Uns geht dank denen dort oben hier unten bald die Luft aus. Die Korallenriffe sind praktisch verschwunden, stattdessen liegt überall Müll rum, die Hälfte unserer Verwandten gibt es nicht mehr und der verschwendet seine Zeit mit so einer sinnlosen Reise!», grummelte ein Seehase.
«Weiss er denn nicht, dass der Horizont unerreichbar ist?», fragte ein Kugelfisch schüchtern. 
«Yanni wird genauso wenig den Horizont erreichen, wie wir den Menschen davon abbringen können, unser Zuhause weiter zu verwüsten!», bemerkte eine Pyjamaschnecke und verkroch sich traurig in ihr Häuschen. 
«Jetzt hört mal auf mit Trübsal blasen! Die Lage ist ernst, aber wir können nicht einfach unsere Köpfe in den Sand stecken! Wir werden schon noch auf eine Lösung kommen. Yanni wird uns helfen, da bin ich mir sicher!», munterte Octo die anderen auf.

Yanni liebte das Leben auf dem Meer, wenn er nicht gerade einen Feriendampfer voller lärmender Touristen kreuzte, die sich respektlos benahmen und ihren Abfall einfach über die Reling warfen. 
«Würdet ihr es mögen, wenn jemand seinen ganzen Müll in eurer Stube entsorgen würde!?», rief er ihnen erzürnt zu. 
Doch die Touristen konnten oder wollten ihn nicht hören und winkten ihm breit grinsend zu. 
Sobald sein Ärger verflogen war, genoss Yanni die friedliche Ruhe. Er staunte über die unzähligen Farben des Meeres und des Himmels. Alles änderte sich ständig. Nur sein Freund, der Horizont ließ Wolken und Gezeiten gelassen an sich vorüberziehen, und umrandete die Welt jeden Tag in einer perfekten Linie. 
«Mehr als vierzigtausend Kilometer ist diese Linie lang. Es gibt keinen Ort auf der Welt, den der Horizont nicht kennt. Stell dir das mal vor, Octo!», philosophierte Yanni mit seinem neuen Freund, der ihm oft Gesellschaft leistete, um über die erstaunliche Vielfalt allen Lebens zu reden, aber auch über die Kurzsichtigkeit der Menschen nachzudenken, die in gewissen Dingen nur bis zur eigenen Nasenspitze dachten und keinen Millimeter weiter. 
«Könnte ich doch wieder jung sein! Ich würde den Leuten mit meinen Geschichten deutlich machen, dass die Natur uns nicht braucht, wir aber sie. Wir benehmen uns wie...wie...» suchte Yanni verärgert nach der richtigen Bezeichnung.
«Wie Menschen eben. Tja, mein lieber Yanni, wenn das Wörtchen wenn nicht wär, gäbs im Meer kein Plastik mehr…», antwortete Octo.
Schweigend beobachteten sie die Sternschnuppen und wünschten sich etwas, in der Hoffnung, es würde in Erfüllung gehen. 
Am nächsten Morgen stellte Yanni sich vor den kleinen Spiegel, um sich zu rasieren und traute seinen Augen nicht. Ungläubig berührte er sein Gesicht. Die Glatze und all seine Falten waren verschwunden. Er war wieder einer junger Mann. Kopfschüttelnd fuhr er sich mit den Händen durchs dichte Haar. Glücklich rannte er an Deck und sprang laut juchzend ins Wasser. Er nahm einen tiefen Atemzug und tauchte unter, schwamm immer tiefer und tiefer. Komischerweise verspürte er gar keinen Drang, wieder an die Wasseroberfläche zu schwimmen, um Luft zu holen. Er zwickte sich ungläubig ins Ohr. Nein, das war kein Traum! Er konnte tatsächlich unter Wasser atmen, so wie ein Embryo im Fruchtwasser. 
«Im Grunde sind wir auch Fische bevor wir auf die Welt kommen!», überlegte Yanni.
Fluoreszierende Quallenschwärme, die aussahen wie kleine Raumschiffe, beäugten ihn skeptisch während er vor Freude auf dem Grund des Meeres Purzelbäume schlug. 
«Was ist denn das für ein komischer Fisch?», fragten sie sich verunsichert, da sie in diesen Tiefen des Meeres noch nie einen Menschen gesehen hatten. 
«Ist der etwa gefährlich?» 
Yanni winkte ihnen zu, doch die Quallen missverstanden seine freundlich gemeinte Geste und brachten sich schnell in Sicherheit.
«Verrückt! Einfach nur verrückt!», dachte Yanni. 
Eine weitere Geschichte, die Sofia Yanni kaum glauben würde.
Yanni schwamm weiter auf ein Korallenriff. Er fühlt sich stark und jung und sah Fischarten, die er noch nie zuvor gesehen hatte, als sich zwischen den Bäumchenkorallen plötzlich etwas bewegte. Täuschte er sich oder hatte er tatsächlich eine Sirene erblickt? Neugierig schwamm er näher heran, konnte jetzt aber ausser ein paar Krebsen nichts entdecken. Er musste wohl geträumt haben. Andererseits schwamm er doch hier wie ein Fisch im Meer herum, eine Sirene mehr oder weniger würde ihn jetzt auch nicht verblüffen. 
Plötzlich kitzelte ihn etwas an den Füßen. Er drehte sich um, hörte aber nur ein leises Kichern. 
«Schaut, das ist der alte Fischer Yanni, der den Horizont besuchen will.» 
«Ach, der arme Tölpel! Weiß er denn nicht, dass man den Horizont nicht erreichen kann?», sprachen die wunderschönen Stimmen durcheinander. 
«Bleib lieber hier bei uns! Du wirst es viel schöner haben!», sangen sie mehrstimmig.
«Ihr lügt! Man darf euch nicht trauen!» 
Wütend wandte sich Yanni ab und schwamm an die Wasseroberfläche zurück. 
Schlecht gelaunt kletterte er wieder auf sein Boot und bemerkte, dass seine Bewegungen immer langsamer wurden und dass er seine alten schmerzenden Knochen wieder spürte. Er eilte unter Deck zum Spiegel und erstarrte vor Schreck. Er war wieder gealtert und sein gefurchtes Gesicht blickte ihm traurig entgegen. 
«Was geschieht bloß mit mir?» 
Erschöpft sank er auf das Kajütenbett, rieb sich seine rissig rauen Fischerhände und sah, dass ihm Schwimmhäute zwischen den Fingern gewachsen waren. 
«Verrückt! Einfach verrückt! Ob ich morgen wohl wieder als junger Mann aufwachen werde?», murmelte er neugierig und schlief beim  sanften Rauschen der Wellen ein. 

HEIMWEH

Als die ersten Sonnenstrahlen durch die Bootsluken drangen, stand der alte Fischer schnell auf, um sich im Spiegel zu betrachten. Tatsächlich blickte ihm im Spiegel der junge Yanni entgegen. Wagemutig sprang Yanni ins Wasser, um sich auf die Suche nach Octo zu machen.
Doch sein Freund war nicht zu finden. Die Wasserströmungen trugen wieder stattdessen den bezaubernden Gesang der Sirenen heran. Hin- und hergerissen überlegte er, ob er zu ihnen schwimmen sollte, um nachzufragen, ob sie ihn nur geneckt oder doch die Wahrheit gesprochen hatten. Er erinnerte sich an all die Geschichten, die man sich von den Fischern erzählte, die sich, angelockt vom Gesang, in eine Sirene verliebt hatten und nie mehr an Land gekommen waren, und entschied sich, einen grossen Bogen um die sagenumwobenen Geschöpfe zu machen.
Rastlos schwamm er durch die Gegend. Statt sich an der Unterwasserwelt zu erfreuen, zerbrach er sich den Kopf darüber, welcher Meeresbewohner ihm sagen konnte, ob und wie man den Horizont erreicht. Er schwamm an einem versunkenen Schiffswrack vorbei und erinnerte sich daran, dass die Sirenen von Cala, der weisen Meeresschildkröte, gesungen hatten, die seit Ewigkeiten in diesen Gewässern lebte und sicher wusste, ob man den Horizont erreichen kann oder nicht. 
Yanni bemerkte, dass ihm das Atmen immer schwerer fiel und schwamm hastig an die Wasseroberfläche. Sein Blut pochte laut in den Ohren. Seine Lungen verlangten nach Luft. Kurz vor knapp erreichte er die Wasseroberfläche. Völlig erschöpft hielt er sich am Boot fest und konnte sich mit letzter Kraft an Bord ziehen. Ihm war es  vorgekommen, als wäre er nur eine Stunde unter Wasser gewesen, aber tatsächlich stand schon der Mond wieder am Himmel.
«Ich muss vorsichtiger sein!», ermahnte er sich, «Und rechtzeitig zurückkehren, sonst werde ich in der Tat den Horizont nie erreichen!» 
Erschöpft legte er sich hin und dachte nach, wie es möglich war, dass er sich über Nacht in den jungen Mann verwandelte, den er vor vielen Jahren gewesen war. Man sagte zwar, dass man mit fortschreitendem Alter wieder zum Kinde wird, aber das war nur eine Redewendung. Dass dies mit ihm wortwörtlich geschehen würde, hätte er niemals für möglich gehalten. Wieder eine Frage, auf die er keine Antwort wusste. Überfragt schüttelt er den Kopf. 
«Jedenfalls hoffe ich, dass der Zauber so lange anhält, bis ich wenigstens weiß, was es mit dem Horizont auf sich hat.»

Am nächsten Morgen zog ein Gewitter heran, aber das schreckte den wieder erneut verjüngten Yanni nicht ab, im Gegenteil. Furchtlos sprang er ins Meer, denn er hatte sich vorgenommen, Cala zu finden. Und was sich der junge Yanni im Gegensatz zum alten in den Kopf setzte, das zog er auch durch, Gewitter hin oder her. 
Das Wasser war kühler als sonst, aber das kümmerte ihn nicht. Je tiefer er schwamm, umso weniger nahm er etwas vom Gewitter wahr. Nur die Seeanemonen auf dem Meeresgrund schwankten leicht hin und her. Yanni legte sich neben sie, während über ihnen der Sturm tobte. 
«Was für eine Ruhe hier unten herrscht! Wäre ich jetzt auf meinem Boot, ich würde ich wohl seekrank werden vor lauter Rauf- und Runterschaukeln!» 
Plötzlich ergriff etwas Yannis Fuß und zog ihn zu sich heran. Yanni erkannte Ottos Tintenfischarme, die sich um seinen Hals schlangen. 
«Octo, lass mich los. Ich bin es, Yanni!» 
«Yanni? Was ist denn mit dir geschehen? Warst du nicht mal älter? Lipame, es tut mir sehr leid!», entschuldigte sich Octo und lockerte den Griff. 
«Ich dachte schon, ich hätte gerade mein Frühstück gefangen.»
«Brauchst du eine Brille oder was?», erzürnte sich Yanni und rieb sich den Hals, der mit roten Saugflecken übersät war. 
«Ja, ich bin schrecklich kurzsichtig und hätte mich schon lange darum kümmern müssen, aber so wie du jetzt ausschaust, hätte ich dich eh nicht erkannt. Und überhaupt, was suchst du hier unten, so ganz ohne Sauerstoffflasche?», fragte Octo, um das Thema zu wechseln. 
«Das ist eine lange Geschichte. Die Sirenen haben mich verspottet und gesagt, dass man den Horizont nicht erreichen kann. Stimmt das?»
Octo blickte betreten weg bevor er schließlich nickte. 
«Das stimmt nicht! Die weise Schildkröte wird mich nicht anlügen!», ereiferte sich Yanni.
«Yanni, glaub mir! Ich bin doch dein Freund. Den Horizont kann niemand erreichen. Mit jedem Schritt, den wir auf ihn zu machen, macht er einen Schritt von uns weg. Ich wollte dich nicht enttäuschen. Und ausserdem wärst du dann wieder nach Hause gefahren und ich... ich hätte einen Freund verloren.» 
«Freund nennst du das?!», erwiderte Yanni aufgebracht. «Du hättest mich beinahe erwürgt!» 
«Ich hab mich doch schon entschuldigt! Du kannst aber auch stur wie ein Esel sein! Cala ist keine Frühaufsteherin. Sie schläft noch. Du musst dich also noch etwas gedulden», erklärte Octo, bevor er sich schmollend auf den Weg machte. 
Yanni setzte sich enttäuscht hin und betrachtete einen blau leuchtenden Seestern. Sein Vater hatte ihm früher erzählt, dass Sternschnuppen zu Seesternen werden, wenn sie ins Meer fallen. Er hatte sich das als kleiner Junge immer vorzustellen versucht und musste nun feststellen, dass das auf seine eigene Art tatsächlich so war. Die Erinnerungen an sein altes Leben machten Yanni etwas wehmütig. Zum ersten Mal seit Tagen vermisste er seine Insel, seine störrische Ziege und Sofia. 
«Vielleicht sollte ich wieder zurückkehren bevor sich die Kleine Sorgen macht», überlegte Yanni, während er mit seinen Zehen im Meeresgrund wühlte und kleine Sandstürme erzeugte. 

© Text und Zeichnungen Brambrilla 2015 / Daniela und Isabella Cianciarulo

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