Wer sind die Brambrillas

WIR SCHREIBEN KINDERGESCHICHTEN UND DENKEN UNS IMMER WIEDER ETWAS NEUES AUS. WIR ZEICHNEN UND FOTOGRAFIEREN. MAL ZUSAMMEN, MAL JEDE FÜR SICH. BASTELN, FILOSOFIEREN UND KOCHEN TUN WIR AUCH GERNE. WIR MÖGEN TIERE UND DAS MEER. DIE NATUR LIEGT UNS AM HERZEN UND DIE FREUDE DARAN WOLLEN WIR MIT EUCH TEILEN.

20. September 2015

Willi, der Waschbär


Das ist Willi, der mutige Waschbär. Er hat nicht vor vielem Angst, aber vor dem Zahnarzt, da hat er so richtig Muffensausen. Wie Willi dann doch noch seinen morschen Zahn losgeworden ist, kannst du in unserer Geschichte lesen.


Der mutige Waschbär Willi

Gut gelaunt stampfte Waschbär Willi durch den glasklaren Bach und tastete mit seinen Vorderpfoten geschickt unter den Steinen nach irgendetwas Essbarem. Was genau, das war egal, denn Waschbär Willi war nicht zimperlich. Ihm schmeckte so ziemlich alles: Fische, Krebse, Frösche, Schnecken, Nüsse. Was er zwischen die Finger kriegte, wurde genüsslich verschlungen, und das sah man dem nicht mehr ganz so schlanken Waschbären mit der Zeit leider auch an. 
Willi hatte sein ganzes Leben in der Nähe des Baches verbracht und war so was wie eine Berühmtheit. Die Waldtiere nannten ihn ehrfürchtig den mutigen Waschbären Willi, denn er hatte mehr als nur einmal seinen übergrossen Mut bewiesen. Willi hatte verirrten Menschenkindern den Heimweg gezeigt, gefährliche Erdrutsche vorausgesagt und dadurch viele Waldtiere vor dem sicheren Tod gerettet. Er hatte selbstlos sein Leben aufs Spiel gesetzt und beim grossen Unwetter zusammen mit den Bibern einen Schutzwall errichtet, um den Wald vor einer schrecklichen Flutwelle zu bewahren. Ausserdem war er der Einzige, der den launischen Braunbären Orso besänftigen konnte, wenn wieder einmal Vollmond war und der riesige Bär unberechenbar und unausstehlich wurde. 
Mit Rat und Tat stand der Waschbär jedem zur Seite, der eine helfende Pfote brauchte. Doch Waschbär Willi protzte nicht mit seinen zahlreichen Heldentaten, und wenn er ehrlich war, fand er das für ihn von den Waldtieren aufgestellte Denkmal etwas übertrieben, auch wenn er die Anerkennung durchaus schätzte, die ihm die Tiere damit entgegenbrachten. Trotzdem verstand Waschbär Willi den ganzen Wirbel um seine Wenigkeit nicht, denn er tat ja nur, was in seinen Augen jeder tun sollte, nämlich helfen, wenn er es konnte. Er hielt sich weder für besonders mutig noch genoss er sonderlich sein Ansehen. 
Je mehr Zeit verging und je mehr Tiere von seinen Heldentaten berichteten, desto unwahrer wurden die Geschichten, die man sich im ganzen Wald über Waschbär Willi erzählte. Die Waldtiere schmückten von Mal zu Mal seine Heldentaten gekonnt aus und genossen, zufrieden mit sich und ihrer herausragenden Erzählkunst, das ungläubige Staunen ihrer Zuhörer. Am Schluss kämpfte Willi in den Erzählungen allein gegen zehn gefährliche Wildschweine, obwohl schon seit Ewigkeiten kein einziges Wildschwein mehr im Wald gesichtet worden war. 
Oft hatte er darum gebeten, seine Heldentaten in der Vergangenheit ruhen zu lassen, denn je grösser sein Ruhm wurde, desto beobachteter fühlte sich der friedfertige Waschbär. Und jetzt, wo er langsam älter wurde, sehnte er sich mehr und mehr nach einem ruhigen Leben. 
Ständig musste er wegen seiner bewunderten Taten stark, besonnen und mutig auftreten. Niemals durfte er gegenüber den restlichen Waldbewohnern eine Schwäche zeigen. Kaum bemerkten diese auch nur die kleinste Veränderung in seinem Verhalten, befürchteten sie schon ein Unglück und fühlten sich im Wald nicht mehr sicher. 
Waschbär Willi war ein frohes Gemüt, und auch wenn ihm manchmal der Gedanke kam, einfach den Wald zu verlassen und sich ein neues Plätzchen zu suchen, wo ihn niemand kannte, konnte er sich nicht von seinem geliebten Bach trennen. Er wusste, dass es die Waldbewohner im Grunde nur gut mit ihm meinten. 
Etwas müde richtete sich der Waschbär auf, schaute sich um und hielt seine Schnauze schnuppernd in die Luft. 
“Mhmm, was für ein schöner Sommertag!”, brummelte er und erblickte einen schimmernden Fisch, der ahnungslos zwischen seinen Hinterpfoten herumschwamm. Waschbär Willi schmunzelte zufrieden. 
“Du machst es mir ja fast schon zu einfach!” 
Flink schnappte der Waschbär nach dem Fisch und ging fröhlich fiepend mit seinem eben gefangenen Mittagessen ans Ufer. 
Er schüttelte das nasse Fell und rubbelte den Fisch mit einem Stein ab, denn Fischschuppen mochte er nicht besonders. Zufrieden tauchte er den Fisch ins klare Bachwasser, schnupperte geniesserisch daran und biss schliesslich hungrig ins zarte Fischfleisch. Und da durchzuckte ihn ein grauenvoller, jämmerlicher Schmerz. Er wollte gerade laut aufschreien, als die liebliche Hirschkuh Mohini vor ihm stehen blieb und ihn freundlich anlächelte. 
“Einen wunderschönen Tag, Waschbär Willi”, grüsste sie ihn erfreut. 
Waschbär Willi versuchte, seinen ungeheuren Schmerz zu verbergen und nickte ihr mit leicht gequälter Miene zu, sodass Mohini etwas näher herankam und ihn besorgt begutachtete.
“Alles in Ordnung?”, fragte sie. 
“Keine Schorge, allesch in beschter Orgnung”, antwortete Willi tapfer und versuchte mit dem Bissen im Mund zuversichtlich zu lächeln. 
Erleichtert verabschiedete sich Mohini wieder und verschwand im Dickicht des Waldes. Kaum war die schöne Hirschkuh nicht mehr zu sehen, spuckte Waschbär Willi das Fischfleisch aus und hielt sich die schmerzende Backe. Schnell eilte er zum Bach und hielt seinen Kopf übers Ufer. Besorgt blickte ihm sein Spiegelbild entgegen. Er öffnete so weit es ging den Mund, und dann entdeckte er den Verursacher der schlimmen Schmerzen. Schwarz, völlig durchlöchert und morsch spiegelte sich der hinterste Backenzahn im klaren Wasser. 
“Himmel, isch hab ein Losch im Tschahn!”, stellte der Waschbär entsetzt fest, und wieder durchzuckten ihn fürchterliche Schmerzen. 
“Wasch masch isch denn jetscht?”, murmelte er verzweifelt und liess sich ins hohe Gras plumpsen. 
Und weil ein Unglück selten allein kommt, wurde er prompt von Christa, der Wespe, auch noch in sein wertes Hinterteil gepikst. 
“Aua!”, schrie Waschbär Willi, sprang auf und hielt sich das schmerzende Gesäss. 
“Tschuldige, aber irgendwie war ich gerade in Lebensgefahr”, summte Wespe Christa verschmitzt. 
Waschbär Willi sprang ins kühlende Wasser und seufzte erleichtert auf, als der pochende Stich nicht mehr ganz so schmerzte. 
“War meine Schuld, Chrischta”, sagte der Waschbär, der sich vorhin fast auf die Wespe gesetzt hatte. 
Wespe Christa schwirrte um seinen Kopf herum und schaute ihn genauso besorgt an wie Mohini kurz zuvor. 
“Erdrutsch in Sicht?”, fragte sie verängstigt. 
“Ach, wasch! Isch habe Tschahnschmertschen”, erklärte der arme Waschbär und schüttelte verärgert den Kopf. 
“Ach, dann ist ja gut”, erwiderte Wespe Christa erleichtert. 
“Nischt ischt gut!”, brummte Willi missmutig und hielt sich die schmerzende Backe. 
Wespe Christa machte es sich auf einer gelben Butterblume bequem und schaute mitfühlend auf Willis Backe. 
“Du musst zum Waldzahnarzt Jonathan. Der kann dir sicher helfen”, riet sie ihm. 
Waschbär Willi blickte erschrocken auf und schüttelte vehement den Kopf. 
“Hast du etwa Angst?”, fragte die Wespe und lachte summend auf. 
“Isch habe keine Angscht!”, antwortete der Waschbär nun wirklich wütend. 
In Wahrheit hatte Willi fürchterliche Angst vor dem Waldzahnarzt, aber sein Stolz liess es nicht zu, dies vor der kleinen Wespe zu zeigen. Waschbär Willi erhob sich etwas schwerfällig, watete aus dem Wasser und stolzierte tropfend an Wespe Christa vorbei, die im kopfschüttelnd nachschaute. 
“Alter Sturkopf!”, murmelte sie und schwirrte davon. 
Fünf Tage und fünf Nächte vergingen, ohne dass jemand etwas von Waschbär Willi hörte oder sah. Langsam begannen die Waldbewohner sich ernsthaft Sorgen zu machen. Es wurden sogar Suchtrupps zusammengetrommelt, aber nicht einmal die schlauen Füchse konnten Waschbär Willi aufspüren. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Sie hatten jeden Flecken des Waldes nach ihm abgesucht. Na ja, fast. In die Nähe von Braunbär Orsos Höhle wagte sich natürlich keiner. Doch genau dorthin hatte sich Waschbär Willi verkrochen. In einem so schmerzlichen Moment war das Einzige, was er brauchte, Ruhe, und er wusste, dass er diese nur bei Orso finden konnte. Keines der Waldtiere würde sich nämlich je freiwillig in diese Gegend trauen. 
Etwas ausser Atem hatte Waschbär Willi die gut versteckte Höhle erreicht. Erschöpft und immer noch von schrecklichen Zahnschmerzen geplagt hatte er sich vor Orsos Höhle auf den Boden fallen lassen und streckte völlig abgekämpft alle vier Pfoten von sich. Dankbar genoss er die beruhigende Stille. Nur das rhythmische Klopfen eines Buntspechts war aus der Ferne zu hören. Es hätte so schön sein können, wenn nur nicht diese schrecklichen Zahnschmerzen gewesen wären. Waschbär Willi richtete sich auf und versuchte, nicht auf seinen laut knurrenden Magen zu achten. Seit Tagen hatte er wegen seines faulen Zahns nicht das kleinste Bisschen essen können. 
“Was willst du hier?”, fragte Orso grimmig, der nach seinem Mittagsschlaf gähnend aus der Höhle trat und sich gemächlich an der Sonne streckte. 
“Ruhe, isch will Ruhe! Ischt dasch klar? Dasch ischt mein Platsch und dasch ischt dein Platsch!”, schrie Waschbär Willi aufgebracht und gestikulierte wild mit einer Pfote, während er sich mit der anderen die schmerzende Backe rieb. 
“Ist ja gut!”, brummte der riesige Bär erstaunt, der den sonst freundlichen Waschbären noch nie so erlebt hatte. 
Orso setzte sich vor seine Höhle und beobachtete schweigend seinen unverhofften Gast. 
“Wasch gugscht du scho blöd?”, nuschelte Willi unfreundlich. 
“Warscht du in Frankreisch oder wasch?”, ahmte der Bär den Waschbären amüsiert nach. 
Wütend sprang Willi auf und eilte auf Orso zu, riss die Schnauze weit auf und zeigte dem Bären seinen kranken Zahn. 
“Schieht dasch etwa nach Ferien ausch?”, fragte Willi wütend und verzog vor Schmerzen das Gesicht. 
“Oh!”, brummte Orso mitfühlend. “Du musst zum Waldzahn...”, sprach er weiter, doch Willi unterbrach ihn, bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte. 
“Ich brausche keinen Schahnartscht und keine Meditschin! Und isch habe keine Angscht!”, schrie Willi und blickte dem Bär stur entgegen. 
“Schrei doch nicht so! Ist ja schliesslich deine Sache, was du machst”, erwiderte Orso leicht beleidigt und erhob sich, um jagen zu gehen. 
“Genau, geh nur und lasch misch endlisch in Ruhe!”, nuschelte Willi müde.

Der arme Waschbär war schon ganz benommen vor Schmerzen, als Orso mit einer grossen, eben gefangenen Forelle in der Schnauze zurückkam. Schweigend machte es sich der Bär vor seiner Höhle bequem und biss genüsslich in den Fisch. Unauffällig schielte Waschbär Willi mit geschwollener Backe zu Orso rüber, der Willis hungrige Blicke natürlich bemerkte. 
“Hunger?”, fragte er beiläufig. 
“Natürlisch nischt!”, erwiderte der Waschbär trotzig, doch sein laut knurrender Magen verriet ihn. 
Orso schüttelte über Willis Sturheit amüsiert den Kopf, halbierte den Fisch und warf ihn Willi vor die Füsse. 
“Leiden ist nicht mutig”, fügte er bloss an und kaute schmatzend weiter. 
“Wasch hat dasch mit mir tschu tun?”, fragte Willi wütend, nahm schliesslich einen ganz kleinen Bissen von der Forelle und kaute vorsichtig darauf herum. 
“Wenn du mich fragst, jede Menge”, antwortete Orso. 
Waschbär Willi zuckte gleichgültig mit den Schultern. 
“Weisst du denn nicht, dass es mutiger ist, etwas gegen das Leiden zu tun, als es einfach wie ein Feigling zu ertragen?”, brummte Orso weiter. 
“Feischling!? Isch bin kein Feischling!”, verteidigte sich Waschbär Willi entrüstet und streckte dem Bären kampfbereit seine kleinen pelzigen Waschbärenfäustchen entgegen. 
“Dann lass dir helfen, mein Freund”, erwiderte Orso, erhob sich seufzend und kam auf Willi zu. 
Willi schaute blinzelnd zum mächtigen Braunbär auf, der nun in seiner ganzen Grösse vor ihm stand und einen riesigen Schatten auf ihn warf. 
“Isch brausche keine Hilfe!”, sagte Willi trotzig und schluckte verängstigt. 
“Du bist stur wie ein Esel, aber ich mag dich und deshalb, du wirst mir verzeihen müssen, tue ich das jetzt!”, sprach der Bär und zuckte entschuldigend mit seinen breiten Schultern. 
“Wasch willscht du damit schagen?”, fragte der Waschbär misstrauisch. 
Doch statt ihm zu antworten, versetzte Orso dem Waschbären einen möglichst sanften Schlag, hob ihn auf die Schultern und machte sich mit seinem bewusstlosen Freund auf den Weg.

“Was? Wo? Wer bin isch?”, lallte Waschbär Willi etwas später und versuchte vergeblich, all die leuchtenden Sternchen vor den flimmernden Augen zu zählen. Er kniff einige Male die Augen zusammen, und als sich sein Blick wieder klärte, schaute er einem freundlich blickenden Mann entgegen, der einen weissen Mundschutz trug. 
“Schahnartscht! Hilfe! Wo ischt der Auschgang?”, jammerte Willi verzweifelt. 
Schnell versuchte er vom Zahnarztstuhl hinunterzusteigen, Orsos kräftige Pranke hielt ihn aber sanft zurück. 
“Danke. Sie sind wahrlich der perfekte Assistent”, lobte Waldzahnarzt Jonathan den Bären, der geschmeichelt lächelte. 
“Und jetzt zu Ihnen, Waschbär Willi”, sprach der Waldzahnarzt und blickte ernst. 
Willi zuckte nervös mit den Augen und schaute verängstigt zu Orso hoch, der ihm beruhigend zuzwinkerte. 
“Sie leiden an einer fortgeschrittenen Zahnkaries. Der Zahn muss raus!”
“Rausch?”, wiederholte Waschbär Willi entsetzt. 
“Sofort!”, bestätigte der Zahnarzt und nickte wieder ernst. 
“Möchten Sie eine Narkose?”, fragte er fürsorglich und hob eine kleine Spritze, die mit einer gelben Flüssigkeit gefüllt war. 
Waschbär Willi schluckte zweimal und fasste Mut. 
“Natürlisch keine Narkosche! Isch bin dosch der mutige Waschbär Willi!” sagte er, schloss tapfer die Augen und riss den Mund so weit auf, wie es ging. 
Doch Orso nickte dem Zahnarzt hinter Willis Rücken heftig zu und deutete ihm an, die Spritze auf jeden Fall zu benützen. Ruckzuck und Piks machte es, und Willi fühlte sich plötzlich, als würde er auf einer flauschigen Wolke schweben. 
“Wasch? Wo? Wer bin isch?”, fragte er leicht lallend und fiel sofort in einen tiefen sanften Schlaf. 
Und während Waschbär Willi von saftigen Forellen träumte, befreite ihn Waldzahnarzt Jonathan von seinem kranken Zahn. 
Als Waschbär Willi wieder zu sich kam, lag er bequem im hohen Gras vor Orsos Höhle. Er richtete sich etwas unbeholfen auf und erblickte den Bären, der ihm freundlich zulächelte. Und plötzlich kam Waschbär Willi wieder in den Sinn, was alles passiert war. 
“Du bist...”, wetterte er los und bemerkte erstaunt, dass er überhaupt keine Zahnschmerzen mehr hatte. 
Der Waschbär grinste erleichtert und blickte überglücklich zu Orso.
“Du bist ein echter Freund!”, bedankte er sich strahlend. 
“Und du warst wirklich mutig”, entgegnete Orso und lachte dröhnend.
Waschbär Willi erhob sich und näherte sich dem Braunbären. 
“Sag mal, wir sind doch jetzt Freunde fürs Leben, nicht?” 
Orso vermutete bereits, worauf Willi hinauswollte und sah ihm schmunzelnd entgegen. 
“Keine Sorge. Ich werde niemandem unser Geheimnis verraten”, versprach er. 
“Es wagt sich ja eh keiner hierhin, dem ich davon erzählen könnte”, sprach Orso weiter und schob Willi schmunzelnd ein braunes Fläschchen zu. 
“Was soll ich denn damit?”, fragte Willi erstaunt. 
“Das hat mir Doktor Jonathan für dich mitgegeben. Das ist Meditschin!”, erklärte er breit grinsend. 
“Die musst du eine Woche lang nehmen, damit die Wunde in deinem Mund gut verheilt”, erklärte Orso seinem Freund. 
Waschbär Willi rümpfte die Nase, doch dieses Mal war er so mutig und nahm gleich einen kleinen Schluck davon. 
“Gar nicht so schlecht, diese Medizin!”, stellte Willi erstaunt fest. 
Orso lachte wieder dröhnend und erhob sich. 
“Und jetzt ist Ruhe! Ich bin müde!”, brummte er, gähnte ausgiebig und ging in die Höhle, um sich für den wohlverdienten Winterschlaf hinzulegen. 
Waschbär Willi winkte ihm zum Abschied zu und machte sich gut gelaunt auf den Heimweg. 
Überglücklich über Willis Rückkehr erzählten sich die Waldbewohner schon kurze Zeit später wieder die abenteuerlichsten Geschichten über die Zeit, als Waschbär Willi eine ganze Woche lang verschwunden war. Und dieses Mal hatte der mutige Waschbär Willi gar nichts gegen die Heldengeschichten, die über ihn erzählt wurden, einzuwenden. Zufrieden lag er am Ufer seines Waldbaches, nahm einen grossen Schluck Medizin und fiepte glücklich.

© 2015 Brambrilla / Daniela und Isabella Cianciarulo

13. September 2015

Herbstsonne der blättrigen Art

Ihr Lieben 
Es herbstelt, denn die ersten Blätter färben sich wunderprächtig ein. Aus Grün wird Gelb, Rot, Hellbraun, Orange und Violett. Wenn ihr das nächste Mal in den Wald oder in den Park geht, sammelt ein paar gelbe Blätter und legt euch die Sonne zu Füssen. 


6. September 2015

Linus ist nicht gleich minus

Linus ist vier Jahre alt und wenn seine Schwester Pia ihm den Ball zuwirft, kann er ihn schon ganz gut fangen. Beim Laufen und Sprechen hat er Probleme, aber das wird er auch noch lernen. Fürs Anziehen, fürs Essen braucht er mehr Zeit als Pia oder die meisten Kinder in seinem Alter. Manchmal verliert Pia die Geduld, aber das passiert Mama und Papa auch. 
„Gemeinsam werden wir es schon schaffen“, meinen Mama und Papa zuversichtlich. 
Schwierig ist es immer dann, wenn Erwachsene oder Kinder, die Linus nicht kennen, ihn anstarren. Am Schlimmsten ist es, wenn Linus im Laden plötzlich los schreit und nicht mehr weiter will, und keiner versteht genau, weshalb. Auch wenn Pia Linus wirklich lieb hat, ist er ihr in solchen Momenten nur peinlich. 
Manchmal streitet Pia mit Linus, obwohl sie das gar nicht möchte. Doch Linus ist dann so nervig, wie andere Brüder eben auch. 
Er singt gerne laut und fröhlich, wenn sie im Stau stehen, Mama Kopfweh hat oder Pia am Sonntag länger schlafen will. Linus muss immer wieder alle Zahlen aufzählen, die er kennt. Und da er sich nur die Zahlen von eins bis sieben merken kann, ist es auf Dauer sterbenslangweilig, ihm zuhören zu müssen. Seine Lieblingszahl ist die Null und die schreibt er überall drauf  Am liebsten auf Pias Zeichnungen oder auf die Wände ihres Zimmers. Er spült ihren Goldfisch das Klo runter, damit dieser ins Meer zurückkann. Dann schreit Pia wie Linus, aber zumindest verstehen Mama und Papa, wieso sie schreit. An solchen Tagen, wenn es ihr mit Linus zu viel wird, klettert Pia in ihr Baumhaus, das Papa nur für sie gebaut hat, um ungestört zu sein. Linus rennt ihr nach und hält die Arme zu ihr hoch. 
„Linus ist eine Null! Nein, noch schlimmer! Linus ist gleich minus! Geh weg!“, schreit sie ihren kleinen Bruder wütend an und bereut es sogleich, wenn er weint, weil er nicht verstehen kann, wieso Pia böse auf ihn ist. 
Linus braucht nur „piep“ zu machen und schon rennen alle zu ihm. Pia kann machen, was sie will, Linus kommt immer zuerst. 
„Hey, ich bin auch noch da!“, möchte Pia von ihrem Baumhaus aus in die Welt rufen, aber sie lässt es bleiben, weil ihr Papa erklärt hat, dass Linus den Weg aus Mamas Bauch nicht so schnell gefunden hat und daher etwas mehr Zuwendung von ihnen allen braucht, um sich nun in der Welt zurechtzufinden. 
Als Mama am Abend in Pias Zimmer vorbeischaut, um gute Nacht zu sagen, zieht sich Pia traurig die Bettdecke über den Kopf und schweigt. 
„Was ist denn meine Grosse?“, fragt Mama besorgt und setzt sich zu ihr aufs Bett.
„Ich will nicht, dass Linus so ist wie er ist. Das macht mich traurig!“, murmelt Pia unter der Decke.
„Am Anfang waren wir auch traurig, aber jetzt haben wir Linus lieb so wie er ist“, sagt Mama und kneift Pia sanft in die Nase. 
„Steck ihn zurück in deinen Bauch zur Reparatur und dann holen wir ihn wieder gesund raus“, sagt Pia stur.
„Ach, Pia“, antwortet Mama schmunzelnd, als draussen ein Paukenschlag ertönt.  
Mama und Pia schauen vom Fenster aus auf Papa und Linus, die in ihren gelben Regenmänteln ein Verscheuchkonzert veranstalten, um die Regenwürmer, die Linus am liebsten von allen Tieren mag, vor den Spatzen zu retten. 
„Siehst du?“, sagt Mama lächelnd, „Wenn Linus nicht Linus wäre, wer würde uns dann so zum Lachen bringen? Stell dir vor, er wäre immer so schlecht gelaunt wie dein Cousin Otto!“
Pia verzieht das Gesicht: „Griesgram Otto als Bruder. Das wäre das Allerallerschlimmste! Linus ist nicht gleich minus, denn er zeigt mir die Welt wie kein anderer. Wir tanzen zum Traktorentakt des Bauern, staunen darüber wie schön die Regentropfen nach einem Gewitter im Spinnennetz funkeln oder wir zählen die schwarzen Punkte der Marienkäfer“, sprudelt es aus Pia, als sie an all die schönen Dinge denkt, die sie mit Linus erleben und von ihm lernen kann.

Als Mama und Papa am Sonntag unter dem Sonnenschirm liegen und schlafen, beobachtet Linus im Gras liegend eine Ameisenstrasse und zählt die fleissigen Tierchen, die über seinen Zeigefinger krabbeln. Pia legt sich zu ihm.
„Null, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, null, eins...“, zählt Linus konzentriert.
„Nach der Sechs kommt die Sieben“, erklärt ihm Pia und hebt ihre sieben Finger. 
Ein Marienkäfer landet dabei direkt auf ihrer Nase. Kichernd beginnt Linus, die Punkte auf seinen Flügeln zu zählen.
„Null, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben.“
Glücklich möchte Pia Papa und Mama wecken, um ihnen zu sagen, dass Linus jetzt bis sieben zählen kann. Doch ihre Eltern schlafen gerade so schön. Sie wird sie später damit überraschen. Linus hält seinen Zeigefinger sanft auf Pias Nasenspitze und der Marienkäfer klettert drauf.
Linus lächelt wie ein Honigkuchenpferd und bringt auch Pia zum Lachen.
„Vielleicht hast du andere Punkte auf deinen Flügeln als ich, aber für mich bist du der schillerndste Käfer von allen“, sagt Pia und beobachtet mit Linus wie der Marienkäfer seine Flügelchen hochklappt und leise brummend zum Himmel schwirrt.