Ihr Lieben
Ob Yanni wohl heute seinem Ziel, den Horizont zu besuchen, einen Schritt näher kommt?
CALA, DIE SCHILDKRÖTE
Tatsächlich hatte Yanni keine Vor-stellung darüber, wie lange er bereits unterwegs war, und wieviele Sorgen sich Sofia um ihn machte. Was ihm wie ein paar Tage erschien, waren in Wirklichkeit Jahre gewesen. Mittlerweile war Athina gestorben und Sofia zu einer jungen Frau herangewachsen, die als einzige im Dorf immer noch auf Yannis Rückkehr hoffte. Das konnte Yanni aber nicht wissen, denn auf der Reise zum Horizont zählten allein die Meeresstunden und die folgten ihren eigenen Gesetzen.
Yanni wollte trotz des immer noch tobenden Sturmes zu seinem Boot zurückschwimmen und nach Hause fahren, als Cala noch etwas verschlafen auf ihn zuschwebte.
Wie schön sie ist, dachte Yanni entzückt.
«Grüss dich, Yanni. Könntest du mir bitte den Panzer abschrubben? Ich komm da so schlecht ran», bat sie ihn und rieb sich gähnend die Augen.
«Aber natürlich», antwortete Yanni hilfsbereit.
Er griff nach etwas Sand und rubbelte den mit Algen und Moos bewachsenen jahrzehntealten Panzer ab. Nach und nach kam regenbogenfarbig schimmerndes Perlmutt darunter zum Vorschein.
«Mhm, das tut gut, efcharisto», bedankte sich Cala.
«So, mein Lieber und jetzt zu dir. Ich habe gehört, dass du mich etwas fragen willst. Ich hab grad ein Momentchen Zeit bis zu meinem nächsten Termin. Also, wie kann ich dir helfen?»
«Wie kann ich den Horizont erreichen?» fragte Yanni aufgeregt.
Cala schüttelte ernst den Kopf.
«Es tut mir leid, aber ich muss dich enttäuschen. Den Horizont kannst du beim besten Willen nicht erreichen. Niemand von uns kann das, solange er lebt.»
«Das glaub ich dir nicht!», entgegnete Yanni stur.
Die Schildkröte ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
«Ich werde dir ein Geheimnis anvertrauen. Ich selbst wollte mal zum Horizont reisen», flüsterte sie ihm zu.
«Wirklich?» fragte Yanni nach.
«Ja, als ich noch jung war, erzählte mein Vater mir, dass er vor langer langer Zeit Acheloos, den Vater der Sirenen, belauscht und dabei erfahren hatte, dass an einem ganz bestimmten Punkt des Horizonts die Weisheit ihren Ursprung hat. Derjenige, der diesen geheimen Ort fände, würde zum weisesten Lebewesen auf Erden. Als ich dies hörte, war meine Entscheidung schnell gefasst. Ich wollte diesen Punkt am Horizont finden und zum weisesten Tier der Welt werden. Ohne meinen Eltern etwas zu sagen, machte ich mich auf den Weg. Viele Jahre war ich unterwegs, doch den Horizont erreichte ich nie. Ich verlor dabei keinen Gedanken an meine besorgte Familie. Niemand konnte mich von meinem Vorhaben abbringen und ich merkte nicht, wie einsam ich geworden war. Yanni, mach nicht denselben Fehler! Den Horizont kann man nicht erreichen. Aber es gibt genügend Orte auf der Welt, die auf uns warten und die uns ihre Geheimnisse anvertrauen können», sprach die Schildkröte ehrlich.
Störrisch schüttelte Yanni den Kopf.
«Ich glaub dir kein Wort. Du lügst mich an! Ihr wollt alle nicht, dass ich den Horizont erreiche und mehr weiß als ihr alle zusammen!», rief er aus.
Cala schüttelte den Kopf und machte sich wieder auf den Weg.
«Was heißt denn schon mehr? Du weißt mehr als die einen, aber auch weniger als die anderen. Das tun wir alle. Niemand hat die Weisheit mit Löffeln gefressen, auch wenn heute manch einer so tut als ob. Höre auf mich und geh nach Hause zurück. Du verschwendest nur deine kostbare Zeit», rief sie ihm noch zu und verschwand langsam in den unergründlichen Tiefen des Meeres.
Wütend wollte Yanni zurück aufs Boot schwimmen, als sich ein Schatten über ihn legte. Er blickte hoch und erkannte einen stattlichen Hai. Schnell versteckte er sich hinter einem großen Felsen und verfolgte dessen flinke Bewegungen.
«Aber klar, der Haifisch!», dachte er.
«Er ist schlau und hat schon in allen Meeren dieser Welt gejagt. Er wird mir wohl sagen können, ob und wie man den Horizont erreichen kann.»
Nicht einmal die Gefahr, vom gefürchteten Raubfisch gefressen zu werden, hielt ihn davon ab, sich diesem zu nähern. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und kam aus seinem Versteck hervor. Doch der Hai war bereits verschwunden. Enttäuscht wandte sich Yanni ab, um zurückzuschwimmen und blickte starr vor Schreck in eine Reihe messerscharfer Zähne.
«Buh!», machte der Hai und grinste belustigt.
Yanni spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror.
Das wars dann wohl!, dachte er und schickte ein letztes Stoßgebet zum Himmel.
«Du hast Glück, dass ich bereits gegessen habe. Du wärst wahrlich ein kleiner Leckerbissen gewesen», sagte Astrapi, der Haifisch und griff nach einer auf dem Meeresgrund vor sich hin rostenden Eisenschnur, um sich die Zahnzwischenräume damit zu putzen.
«Gibt es etwas Langweiligeres als Zähne putzen?», beklagte er sich und ließ Yanni nicht aus den Augen.
Yanni schluckte eingeschüchtert. Astrapi lächelte zufrieden und Yanni nutzte die Gunst der Stunde, um ihm die Frage zu stellen, die ihm auf der Zunge brannte.
«Niemand konnte mir bis jetzt eine Frage beantworten. Aber du, stark und schlau und schnell wie ein Blitz, wirst mir sicher weiterhelfen können», stammelte er.
«Was für eine Frage?», wollte der Hai geschmeichelt wissen.
«Ich will zum Horizont. Weißt du, wie man dorthin gelangt?» fragte Yanni schließlich.
Erstaunt sah ihn der Raubfisch an.
«Es stimmt. Ich kann dir deine Frage beantworten, aber von nichts kommt nichts oder wie unsereins sagt, eine Flosse wäscht die andere. Zuerst putzt du mir meine Beißerchen zu Ende und dann sag ich dir, was du wissen willst,» meinte er grinsend.
Yanni zögerte.
«Na, komm schon. Ich tu dir schon nichts. Du hast mein Wort!»
«In Ordnung», willigte Yanni ein und gab sich einen Ruck.
Zitternd streckte er seine Hand in Richtung Hai, als dieser unvermittelt zuschnappte. Yanni konnte gerade noch rechtzeitig die Hand zurückziehen, sodass die Zähne des Haifisches geräuschvoll aufeinanderschlugen.
«Wieso hast du das gemacht?», fragte Yanni vorwurfsvoll.
«Das musst du nicht persönlich nehmen. Ich bin nun mal kein Vegetarier», entschuldigte sich der Hai.
«Wie konnte ich nur so blöd sein!», ärgerte sich Yanni über sich selbst und schwamm, ohne die Antwort des Haifischs abzuwarten an die Wasseroberfläche.
«Warte!», rief ihm Astrapi hinterher.
«Den Horizont kann niemand erreichen. Und das kannst du mir glauben! Ich komme weit herum, denn ich bin das einzige Meerestier, das nie schläft. Ich muss immerzu schwimmen, sonst würde ich ersticken, aber den Horizont habe ich bisher nicht erreicht.»
«Wieso sollte ich dir auch nur ein Wort glauben? Du wolltest mir gerade die Hand abbeißen!»
«Du bist aber auch störrisch!» entgegnete der Haifisch am Ende seiner Geduld.
«Ich werde schon noch jemanden finden, der mir die Wahrheit sagt!», beharrte Yanni.
«Ich sollte dich vielleicht doch fressen, dann würdest du den anderen nicht mehr mit deiner Sturheit auf die Nerven gehen. Wenn man die Wahrheit wissen will, muss man sie auch ertragen können. Meinst du, ich würde mich nicht mal nach einem tiefen langen Schlaf sehnen? Aber es ist wie es ist. Dafür muss ich mich vor niemandem fürchten. Na ja, stimmt so auch wieder nicht. Ihr nennt uns zwar immer gefährliche Monster, aber wir haben kaum so viele von euch auf dem Gewissen wie ihr! Seit dieser amerikanische Regisseur aus Hollywood, wie hieß er doch gleich, diesen Horrorfilm über den weißen Hai gemacht hat, ist alles noch viel schlimmer geworden. Immer denkt ihr nur in Schwarz und Weiß! Wir sind die bösen und ihr die guten. Dass ich nicht lache!», entrüstete sich Astrapi und schwamm davon.
Yanni sah ihm nach und bemerkte, dass er nicht mehr alleine war. Die restlichen Fische hatten sich wieder aus ihren Verstecken hervorgetraut und blickten ihn verstohlen an. Yanni dachte über Astrapis Worte nach und musste ihm recht geben. So betrachtet war der Mensch tatsächlich der größte Räuber der Geschichte. So weit er auch in seiner Erinnerung wühlte, ein Krieg, den irgendwelche Tiere gegen andere geführt hätten, kam Yanni nicht in den Sinn.
An diesem Abend flickte Yanni weder sein Netz, noch dachte er sich neue Geschichten für Sofia aus. Zum ersten Mal seit langem blickte er in die Weite und versuchte, die feine Linie zwischen Meer und Himmel zu erkennen. Lange war es her, seit er den Horizont gegrüßt hatte. Zu sehr war er damit beschäftigt gewesen, nach dem Weg dorthin zu suchen. Yanni war bei Sonnenuntergang wieder um Jahre gealtert und fühlte sich außergewöhnlich schwach und erschöpft. In seinem Inneren kämpften der junge und der alte Yanni gegeneinander an. Der junge Yanni wollte den Horizont erreichen, eine Antwort auf alles haben, die Welt verändern, während der alte Yanni wusste, dass man nicht alle Fragen beantworten konnte. So saß der Fischer an Deck und zerbrach sich den Kopf darüber, was er denn nun machen sollte, aber er kam auf keine Lösung.
© Text und Zeichnungen Brambrilla 2015 / Daniela und Isabella Cianciarulo