Hallo zusammen
Yannis Geschichte geht heute zu Ende. Wir wünschen viel Spass beim Lesen und ein gemütliches Pfingswochenende!
MOBY DICKS URURURURURURURUR-ENKEL
Am nächsten Morgen wollte Yanni aus dem Bett springen, doch seine Muskeln waren steif und er spürte, dass er als alter Mann ins Bett gegangen und als alter Mann wieder aufgewacht war. Er eilte so schnell es ging zu seinem Spiegel. Verwundert berührte er sein gefurchtes Gesicht, unschlüssig darüber, ob er froh oder traurig sein sollte, oder, ob dies ein Zeichen war, nach Hause zu kehren. Nachdenklich ging er wieder an Deck und kontrollierte sein Netz, bevor er es mit einer weit ausholenden Bewegung ins Meer warf.
Nachdenklich schaute er zum Horizont und hätte wahrscheinlich Stunden so dagesessen, hätte ihn nicht ein junger sich im Netz verfangener Delfin aus den Gedanken gerissen. Schnell holte Yanni sein scharfes Messer hervor, um das Tier zu befreien.
«Beinahe wärst du erstickt!», sagte Yanni besorgt.
«Danke Yanni, das werde ich dir nie vergessen!», rief der Delfin erleichtert.
«Ach was! Bald wirst du dich nicht mal mehr an meinen Namen erinnern.»
«Vielleicht trifft das auf euch Menschen zu. Ich meine, was ich sage. Ich werde mich ein Leben lang an deine Hilfe erinnern», entgegnete der Delfin und schwamm näher ans Boot heran.
Yanni beugte sich zu ihm runter und strich ihm liebevoll über die Schnauze, was dem Delfin einen freudigen Klicklaut entlockte.
«Ich bin übrigens nicht zufällig hier. Man hat mir berichtet, dass du den Weg zum Horizont suchst und niemandem glauben willst, dass dein Unterfangen hoffnungslos ist», erklärte ihm der Delfin.
Yanni kratzte sich verlegen am Kopf.
«Da mir nicht mehr so viel Zeit bleibt, war ich vielleicht etwas zu verbissen», rechtfertigte er sich.
«Ich kann dich verstehen. Auch mein Vater hat nach dem Weg gesucht und ihn erst jetzt gefunden», verriet ihm der Delfin.
Yanni horchte auf.
«Er hat es geschafft?»
«Ja, genau wie deine Eltern. Auch du wirst es schaffen, glaub mir, aber du musst dich noch ein bisschen gedulden», sagte der Delfin und zwinkerte ihm ein letztes Mal zu, bevor er sich auf den Weg machte.
«Warte!» schrie ihm Yanni verwirrt nach. «Was willst du damit sagen?»
»Geduld, Yanni. Alles hat seine Zeit», verabschiedete sich der Delfin und bevor Yanni etwas erwidern konnte, verschwand er in den Wellen.
Yanni blickte ihm nach und wusste in seinem Herzen, dass der Delfin ihm die Wahrheit gesagt hatte. Alles hatte seine Zeit. Und jetzt war es an der Zeit nach Hause zu kehren und von den Erinnerungen an seine erstaunlichen Abenteuer zu zehren. Er hatte auf seiner Reise zwar nicht den Horizont erreicht, dafür aber Octo, Cala, Astrapi und all die restlichen Meeresbewohner kennengelernt. Das war mehr als er sich je erträumt hatte.
Yanni lichtete den Anker und stellte fest, dass er gar nicht mehr wusste, wo er sich befand und in welche Richtung er sein Boot hätte lenken müssen.
Er blickte um sich und zuckte gelassen mit den Schultern.
«Mein Freund, der Wind, wird mich schon ans richtige Ufer lenken.»
Mehrere Tage und Nächte trieb der Wind Yanni nach Hause, während er die außergewöhnlichen Abenteuer der letzten Tage niederschrieb, um auch nichts zu vergessen. Das Meer war spiegelglatt. Ab und zu kreischte eine hungrige Möwe. Und dann hörte Yanni ein tiefes brummendes Lachen. Erstaunt blickte er um sich, doch er konnte niemanden sehen. Er wollte gerade die Geschichte mit dem jungen Delfin zu Ende schreiben, als das Boot meterhoch aus dem Meer gehoben wurde. Verängstigt hielt sich Yanni an einem Tau fest und hörte, wie um ihn herum das Wasser rauschend nach unten strömte. Für kurze Zeit herrschte wieder absolute Stille. Nichts regte sich. Zögernd stand Yanni auf und schaute vorsichtig über den Bootsrand.
«Verrückt! Einfach verrückt!», sprach er leise.
Sein kleines Boot stand nicht mehr im Wasser, sondern auf dem Rücken eines riesigen Blauwales.
«Na, komm zu mir runter. Ich werde dich schon nicht auffressen. Ich finde Menschen äußerst unappetitlich», versicherte ihm der Wal lachend und schielte zu Yanni hoch.
Mit einem mulmigen Gefühl seilte sich Yanni auf dem feuchten Rücken des Wales runter und setzte sich auf dessen Kopf.
«Entspann dich, mein Freund. Ist das nicht ein herrlicher Tag?», fragte er und pfiff vergnügt durch sein Atemloch.
«Ja, ein wunderschöner Tag», antwortete Yanni leise.
«Du bist also auf dem Heimweg. Wenn du magst, nehme ich dich ein Stückchen mit und wir plaudern ein bisschen. Ich soll dich übrigens von allen grüßen», bemerkte der tonnenschwere Koloss.
Yanni dankte ihm erfreut und genoss die außergewöhnliche Sicht aufs Meer.
«Verrückt! Einfach verrückt!», murmelte er staunend.
«Ach, so verrückt, auch wieder nicht. Mein Ururururururururgroßvater Moby Dick hat immer gesagt: Es gibt nichts, was es nicht gibt.»
Yanni nickte zustimmend.
«Und? Hast du herausgefunden, warum du dich immer wieder in den jungen Yanni verwandelt hast?», fragte ihn der Wal.
Yanni zuckt überfragt mit der Schulter.
«Hast du wenigstens eine Ahnung, warum du stundenlang im Meer schwimmen konntest wie ein Fisch?»
Wieder hatte Yanni keine Antwort.
«Du hast dir doch was gewünscht oder nicht?», neckte ihn der Wal.
Yanni kam ins Grübeln. Es fiel ihm wieder nur sein Wunsch ein, den Horizont zu besuchen.
«Nein, nicht dieser Wunsch! Es war Acheloos, der Vater der Sirenen, der dir dieses Geschenk gemacht hat», verriet er lächelnd.
«Der Vater der Sirenen?», fragte Yanni und machte große Augen.
«Wieso gerade mir?», wunderte sich Yanni.
«Deine Rübe wird wohl langsam alt, was?», zog ihn der Wal auf.
«Mein Ururururururururgroßvater Moby Dick hat immer gesagt, man soll sich gut überlegen, was man sich wünscht.»
Yanni zuckte überfragt mit den Schultern.
«Du hast versprochen, den Menschen von uns und unseren Sorgen zu erzählen, wenn du wieder jung sein könntest. Klimawandel, Fischsterben, Umweltverschmutzung. Schon vergessen?»
Traurig blickte Yanni auf seine alten Hände.
«Aber schau mich an, ich bin nicht mehr der Jüngste und werde wohl kaum noch genug Zeit haben, um mein Versprechen zu halten.»
«Mach dir keine Sorgen. Es wird sich schon ein Weg finden. Jeder kleinste Schritt zählt. Und du bist ja nicht allein auf dieser Welt. Wir bringen dich jetzt erst mal nach Hause», munterte ihn der Blauwal auf.
Und endlich begriff Yanni, was der Wal und all die anderen Tiere ihn gelehrt hatten. Alles hängt zusammen. Wir machen alle Fehler. Wichtig ist es, daraus zu lernen. Ohne einander würde das Leben nicht viel Sinn, geschweige denn Freude machen.
«Festhalten, ich schalt jetzt mal den Turbo ein!», warnte Moby Dicks Ururururururururenkel Yanni und schwamm los, um den alten Fischer so schnell wie möglich nach Hause zu bringen.
WIEDER ZU HAUSE
WIEDER ZU HAUSE
Als Yanni seine Insel wieder erreichte, blickten ihn die Dorfbewohner an als würden sie einem Geist gegenüberstehen. Es grenzte für sie an ein Wunder, dass er immer noch lebte, während er sich nicht über die lange Zeit wunderte, die er weg gewesen war. Seine Reise hatten ihn gelernt, dass es nichts gibt, was es nicht gibt.
«Verrückt so was! Einfach verrückt!», murmelte er.
Nur Sofia war nicht ganz so erstaunt, ihren lieben Freund wieder in die Arme schließen zu können. Eine Stimme in ihrem Herzen hatte sie nie die Hoffnung verlieren lassen. Und nun saß sie mit den restlichen Dorfbewohnern bei Yanni vor dem Haus und erfuhr von Octo, dem kurzsichtigen Tintenfisch und von Cala, der weisen Schildkröte. Zum Beweis zeigte ihnen Yanni die Schwimmhäute, die ihm zwischen den Fingern geblieben waren. Sie staunten nicht schlecht, als sie von den Sirenen hörten und von Astrapi, dem Haifisch, der seine ganz spezielle Zahnseide benutzte, und von all den anderen Meeresbewohnern, die dort in einer wunderbaren, aber bedrohten Parallelwelt lebten. Als die Inselbewohner von Yannis Versprechen hörten, den Tieren zu helfen, zögerten sie nicht lange. Alle gemeinsam dachten sie darüber nach, wie man das Steuer noch herumreißen konnte bevor es endgültig zu spät war. Stavros, der Barbesitzer, entschied sich ein Solardach zu bauen und das biologisch angebaute Gemüse seines Onkels für die Speisekarte zu benutzen. Der eine nahm sich vor, auch mal das Fahrrad statt das Autos zu benutzen. Das ganze Dorf einigte sich darauf, den Abfall umweltgerecht zu entsorgen und weniger Plastik zu benutzen. Nikos wollte kleine Meerestiere aus Hefeteig backen und einen Teil des Erlöses für interaktive Aufklärungsprojekte mit Kindern aufwenden, während Yanni weiterhin allen, die ihm zuhören wollten, von seinen Meeresfreunden, vom Horizont und von den kleinen Dingen, die der Mensch tun konnte, um etwas zu verändern, erzählte. Er besuchte Schulen und Altersheime, Dörfer und Städte. Und als er dann doch zu alt dafür wurde und sein Gedächtnis etwas nachließ, erzählte Sofia die Geschichten und sorgte dafür, dass Yannis Erlebnisse nicht verloren gingen.
Neue Touristen kamen auf die Insel, und erfuhren so von Yannis Geschichten, die ihren bisherigen Blick auf das Meer und seine Bewohner veränderten. Immer noch kreuzten die grossen Dampfer vor der Insel auf. Immer noch warfen die einen ihren Abfall ins Meer. Doch andere taten sich zusammen, um den Strand mit ihren Kindern vom Abfall zu säubern.
Eines Abends saß Yanni vor seinem Haus und blickte auf den Horizont. Die Sonne ging gerade unter und tauchte das Meer in schimmerndes Gold, als der alte Fischer ein bekanntes Klickgeräusch hörte. Kurz darauf sprang ein stattlicher Delfin aus dem Wasser. Yanni wusste, dass der Horizont nun auf ihn wartete und machte sich gelassen auf den Weg.
Als Sofia am nächsten Tag vorbeikam, um Yanni das Mittagessen vorbeizubringen, hatte dieser sein Haus aufgeräumt und eine Nachricht für sie hinterlassen.
«Liebe Sofia. Ein alter Freund hat mich zu sich eingeladen. Es wird ein Weilchen dauern, bis wir uns wiedersehen, aber mach dir keine Sorgen. Alles hat seine Zeit.»
Und wenn wir uns heute oder morgen etwas Zeit nehmen, können wir, wo auch immer wir gerade sind, sehen, wie der alte Fischer Yanni auf der feinen Linie zwischen Himmel und Erde einen gemütlichen Spaziergang macht und neue Geschichten in den Wind schreibt, die auf die eine oder andere Weise zu uns gelangen.
© Text und Zeichnungen Brambrilla 2015 / Daniela und Isabella Cianciarulo
© Text und Zeichnungen Brambrilla 2015 / Daniela und Isabella Cianciarulo
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