Wer sind die Brambrillas

WIR SCHREIBEN KINDERGESCHICHTEN UND DENKEN UNS IMMER WIEDER ETWAS NEUES AUS. WIR ZEICHNEN UND FOTOGRAFIEREN. MAL ZUSAMMEN, MAL JEDE FÜR SICH. BASTELN, FILOSOFIEREN UND KOCHEN TUN WIR AUCH GERNE. WIR MÖGEN TIERE UND DAS MEER. DIE NATUR LIEGT UNS AM HERZEN UND DIE FREUDE DARAN WOLLEN WIR MIT EUCH TEILEN.

6. September 2015

Linus ist nicht gleich minus

Linus ist vier Jahre alt und wenn seine Schwester Pia ihm den Ball zuwirft, kann er ihn schon ganz gut fangen. Beim Laufen und Sprechen hat er Probleme, aber das wird er auch noch lernen. Fürs Anziehen, fürs Essen braucht er mehr Zeit als Pia oder die meisten Kinder in seinem Alter. Manchmal verliert Pia die Geduld, aber das passiert Mama und Papa auch. 
„Gemeinsam werden wir es schon schaffen“, meinen Mama und Papa zuversichtlich. 
Schwierig ist es immer dann, wenn Erwachsene oder Kinder, die Linus nicht kennen, ihn anstarren. Am Schlimmsten ist es, wenn Linus im Laden plötzlich los schreit und nicht mehr weiter will, und keiner versteht genau, weshalb. Auch wenn Pia Linus wirklich lieb hat, ist er ihr in solchen Momenten nur peinlich. 
Manchmal streitet Pia mit Linus, obwohl sie das gar nicht möchte. Doch Linus ist dann so nervig, wie andere Brüder eben auch. 
Er singt gerne laut und fröhlich, wenn sie im Stau stehen, Mama Kopfweh hat oder Pia am Sonntag länger schlafen will. Linus muss immer wieder alle Zahlen aufzählen, die er kennt. Und da er sich nur die Zahlen von eins bis sieben merken kann, ist es auf Dauer sterbenslangweilig, ihm zuhören zu müssen. Seine Lieblingszahl ist die Null und die schreibt er überall drauf  Am liebsten auf Pias Zeichnungen oder auf die Wände ihres Zimmers. Er spült ihren Goldfisch das Klo runter, damit dieser ins Meer zurückkann. Dann schreit Pia wie Linus, aber zumindest verstehen Mama und Papa, wieso sie schreit. An solchen Tagen, wenn es ihr mit Linus zu viel wird, klettert Pia in ihr Baumhaus, das Papa nur für sie gebaut hat, um ungestört zu sein. Linus rennt ihr nach und hält die Arme zu ihr hoch. 
„Linus ist eine Null! Nein, noch schlimmer! Linus ist gleich minus! Geh weg!“, schreit sie ihren kleinen Bruder wütend an und bereut es sogleich, wenn er weint, weil er nicht verstehen kann, wieso Pia böse auf ihn ist. 
Linus braucht nur „piep“ zu machen und schon rennen alle zu ihm. Pia kann machen, was sie will, Linus kommt immer zuerst. 
„Hey, ich bin auch noch da!“, möchte Pia von ihrem Baumhaus aus in die Welt rufen, aber sie lässt es bleiben, weil ihr Papa erklärt hat, dass Linus den Weg aus Mamas Bauch nicht so schnell gefunden hat und daher etwas mehr Zuwendung von ihnen allen braucht, um sich nun in der Welt zurechtzufinden. 
Als Mama am Abend in Pias Zimmer vorbeischaut, um gute Nacht zu sagen, zieht sich Pia traurig die Bettdecke über den Kopf und schweigt. 
„Was ist denn meine Grosse?“, fragt Mama besorgt und setzt sich zu ihr aufs Bett.
„Ich will nicht, dass Linus so ist wie er ist. Das macht mich traurig!“, murmelt Pia unter der Decke.
„Am Anfang waren wir auch traurig, aber jetzt haben wir Linus lieb so wie er ist“, sagt Mama und kneift Pia sanft in die Nase. 
„Steck ihn zurück in deinen Bauch zur Reparatur und dann holen wir ihn wieder gesund raus“, sagt Pia stur.
„Ach, Pia“, antwortet Mama schmunzelnd, als draussen ein Paukenschlag ertönt.  
Mama und Pia schauen vom Fenster aus auf Papa und Linus, die in ihren gelben Regenmänteln ein Verscheuchkonzert veranstalten, um die Regenwürmer, die Linus am liebsten von allen Tieren mag, vor den Spatzen zu retten. 
„Siehst du?“, sagt Mama lächelnd, „Wenn Linus nicht Linus wäre, wer würde uns dann so zum Lachen bringen? Stell dir vor, er wäre immer so schlecht gelaunt wie dein Cousin Otto!“
Pia verzieht das Gesicht: „Griesgram Otto als Bruder. Das wäre das Allerallerschlimmste! Linus ist nicht gleich minus, denn er zeigt mir die Welt wie kein anderer. Wir tanzen zum Traktorentakt des Bauern, staunen darüber wie schön die Regentropfen nach einem Gewitter im Spinnennetz funkeln oder wir zählen die schwarzen Punkte der Marienkäfer“, sprudelt es aus Pia, als sie an all die schönen Dinge denkt, die sie mit Linus erleben und von ihm lernen kann.

Als Mama und Papa am Sonntag unter dem Sonnenschirm liegen und schlafen, beobachtet Linus im Gras liegend eine Ameisenstrasse und zählt die fleissigen Tierchen, die über seinen Zeigefinger krabbeln. Pia legt sich zu ihm.
„Null, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, null, eins...“, zählt Linus konzentriert.
„Nach der Sechs kommt die Sieben“, erklärt ihm Pia und hebt ihre sieben Finger. 
Ein Marienkäfer landet dabei direkt auf ihrer Nase. Kichernd beginnt Linus, die Punkte auf seinen Flügeln zu zählen.
„Null, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben.“
Glücklich möchte Pia Papa und Mama wecken, um ihnen zu sagen, dass Linus jetzt bis sieben zählen kann. Doch ihre Eltern schlafen gerade so schön. Sie wird sie später damit überraschen. Linus hält seinen Zeigefinger sanft auf Pias Nasenspitze und der Marienkäfer klettert drauf.
Linus lächelt wie ein Honigkuchenpferd und bringt auch Pia zum Lachen.
„Vielleicht hast du andere Punkte auf deinen Flügeln als ich, aber für mich bist du der schillerndste Käfer von allen“, sagt Pia und beobachtet mit Linus wie der Marienkäfer seine Flügelchen hochklappt und leise brummend zum Himmel schwirrt.